Merle-Sophie Thoma

Hintergrund und Motivation

In Zeiten der Klimakrise und der digitalen Revolution durchleben Städte einen Wandel beispielloser Tragweite. Sie sind Zentren sozialer, wirtschaftlicher und technologischer Innovationen und werden zugleich immer stärker von den Auswirkungen des Wandels gezeichnet. Doch während die smarten Städte der Zukunft voller Versprechen sind – von intelligenten Verkehrs- und Transportsystemen bis hin zur effizienteren Energieversorgung und vernetzten Gesundheitssystemen – werfen sie auch eine grundlegende Frage auf: Für wen sind und werden diese Städte eigentlich gestaltet?

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Behindertenaktivist Hahn lieferte eine recht unmissverständliche Antwort auf diese Frage, als er in seiner Untersuchung der Stadt Los Angeles (1986) feststellte, dass die meisten Städte nicht einmal für nicht-behinderte Menschen entworfen wurden, sondern sich stattdessen vielmehr an einem Ideal des Menschen orientieren würden, dem nur wenige jemals tatsächlich entsprächen (Spörke 2012, S. 745).

Diese Feststellung wirft ein grelles Licht auf die Gestalt urbaner Räume, die gleichzeitig Mitursache und Handlungsort vielfältiger Benachteiligungen sind (Spörke 2012, S. 769). Sie verdeutlicht auch, dass physische und soziale Barrieren in städtischen Umgebungen nicht nur eine Ausnahmeerscheinung sind, sondern den Alltag eines erheblichen Bevölkerungsanteils darstellen: Fast jeder siebte Mensch auf der Erde erlebt in seinem Leben eine Form von Behinderung (Guffey 2023a, S. 2). Dieser Begriff versucht dabei eine breite Palette physischer, psychischer, und neurologischer Erfahrungen zu fassen, die von unterschiedlichen Menschen geteilt werden. Diese Erfahrungen manifestieren sich in verschiedenen Formen, von sichtbaren bis hin zu unsichtbaren, von temporären bis hin zu dauerhaften, von statischen bis hin zu degenerierenden, von schmerzhaften bis hin zu scheinbar belanglosen Zuständen (Weltgesundheitsorganisation und Weltbank 2011, 7 f.).

Angesichts des fortschreitenden digitalen Wandels mit dem Trend zur Smart City manifestiert sich ein neues Forschungsfeld, das die Verbindung von Betrachtungen der sozialen Nachhaltigkeit urbaner Räume und zur menschlichen Stadterfahrung - insbesondere im Hinblick auf marginalisierte Gruppen - mit einer angemessenen anwendungsorientierten Perspektive erfordert.

Relevanz

Das begriffliche Verständnis von Behinderung hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Die Behindertenrechtsbewegung sowie zahlreiche Forschungen aus den Geistes-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften haben den Übergang von einer individuellen, medizinischen Perspektive zu einer strukturellen, sozialen Perspektive hervorgehoben. Treibende Kraft dieses Paradigmenwechsels, der oft als Übergang vom "medizinischen Modell" zum "sozialen Modell" beschrieben wird, ist die Annahme, dass Menschen nicht aufgrund individueller Gesundheitszustände, sondern durch sozio-politische und gesellschaftliche Barrieren beeinträchtigt werden (Weltgesundheitsorganisation und Weltbank 2011, S. 169). Eine neuere Herangehensweise, die von der WHO als "bio-psycho-soziales Modell" bezeichnet wird, verändert mit einer Fokussierung der Wechselwirkung zwischen Gesundheitszustand und Kontextfaktoren das Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung. In diesem Kompromiss zwischen medizinischem und sozialem Modell wird Behinderung hier als Oberbegriff für Beeinträchtigungen, Aktivitätseinschränkungen und Teilnahmeeinschränkungen betrachtet, die sich auf die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitszustand) und den Umgebungsfaktoren dieser Person beziehen (Weltgesundheitsorganisation und Weltbank 2011, S. 4).

Die Klimakrise intensiviert Herausforderungen und verschärft Auswirkungen bestehender Barrieren im Kontext von Behinderungserfahrungen (Stein et al. 2023, S. 108). Unterschiedliche Stimme betonen nachdrücklich die schwerwiegenden Konsequenzen behindernder Barriereerfahrungen und mangelhafter Inklusion:

Climate change amplifies the marginalization experienced by persons with disabilities negatively affecting health, reducing access to healthcare services, food, water, and accessible infrastructure. People with psychosocial disabilities have triple the rate of mortality in heatwaves. [...] For example, consider a situation that requires evacuation,” says Stein. “What happens when the evacuation or refugee center is not accessible, or there is no accessible transportation? What happens to those left behind that may have wished to migrate but cannot? These issues need to be studied. [...] - Harvard University Center for the Environment 2023

Eine nachhaltige Reaktion auf diese komplexen Herausforderungen erfordert demzufolge ein grundlegendes Verständnis der erfahrenen Barrieren und die Entwicklung fundierter Strategien, um diese zu reduzieren. Insbesondere für urbane Räume, die durch eine stetig wachsende Bevölkerung und zunehmende gesellschaftliche Herausforderungen geprägt sind, ist eine umfassende Herangehensweise erforderlich. Ableiten lässt sich daraus, dass aktuelle Themen wie die Re-/Strukturierung urbaner Räume im Rahmen von Smart-City-Initiativen oder auch die Digitalisierung der Städte mit Blick auf heterogene und intersektionale Bedürfnisse und Barrieren aller Menschen erfolgen müssen (Stein et al. 2023, S. 108).

Kontext

Im Bemühen, chronischen und aufkommenden Herausforderungen zu begegnen und die Vision der gerechteren, grüneren und gesünderen Zukunft (World Cities Report 2022, 2022, S. v) zu wahren, kommt Städten eine entscheidende Rolle zu, die sie als Hauptakteurinnen der Klimainitiativen und des soziotechnischen Wandels an vorderste Front treten lässt. (Allam et al. 2022, S. 2). Diese Position unterstreicht u. A. das elfte von siebzehn Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) der 2030 Agenda for Sustainable Development der Vereinten Nationen, welches den Titel „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ trägt und das Ziel verfolgt, „Städte und Gemeinden inklusiv, sicher, resilient und nachhaltig machen“ (United Nations 2015).

In Auseinandersetzungen um das Thema Nachhaltigkeit scheint der Verweis auf die Unbestimmtheit des Konzeptes allgegenwärtig. Häufig findet sich als vielzitierter Ausgangspunkt der 1987 veröffentlichte Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung Unsere gemeinsame Zukunft (Brundtland 1987), besser bekannt als Brundtland-Bericht unter dem namensgebenden Kommissionsvorsitz Gro Harlem Brundtland. Diesem Bericht zufolge kann solche Entwicklung als nachhaltige Entwicklung begriffen werden, die mit dem zentralen Bestandteil generationsübergreifender Gerechtigkeit den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen, wobei sich diese Bedürfnisse in einer Dreifaltigkeit aus wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen – das Soziale umfasst hier als breites Konzept Politisches sowie Kulturelles – Bedarfen präsentieren (Gebresselassie und Sanchez 2018, S. 2).

In Social Sustainability, Climate Resilience and Community Based Urban Development liefern Cathy Baldwin und Robin King den Versuch, anhand konkreter Beispiele und Ideen der Frage „What About the People?“ nachzugehen und verbinden Überlegungen zu urbaner Resilienz und sozialer Nachhaltigkeit, indem sie letztere zur essenziellen Säule für nachhaltige Stadtentwicklung erklären. Bemisst man folglich soziale Nachhaltigkeit an der Lebensqualität gegenwärtiger und zukünftiger Generationen, liegt die Frage nahe, zu welchem Ausmaß urbane Räume individuelles und kollektives Wohlbefinden fördern (Baldwin und King 2018, S. 35) und was unter dem verwandten Konzept der Lebensqualität verstanden werden kann. Dabei lässt sich den Konzepten Lebensqualität und Wohlbefinden vor allem Vagheit sowie ein erheblicher Mangel bei der Berücksichtigung menschlicher Vielfalt attestieren (Gonzalez Bohorquez et al. 2023, S.1).

Oftmals konzentrieren sich Fragen des Zugangs allerdings auf physische Barrieren wie beispielsweise Rampen, Aufzüge und Parkplätze. Auch hier bleibt die menschliche Vielfalt wie bspw. unsichtbare Behinderungen oft unerwähnt (Weltgesundheitsorganisation und Weltbank 2011, S. 174). Das eng gefasste Verständnis von Zugang und infolgedessen auch Barrieren im urbanen Raum wirft vor diesem Hintergrund drängende Fragen nach der räumlichen Komponente sozialer Gerechtigkeit auf, die als maßgeblich für die soziale Nachhaltigkeit solcher Räume begriffen werden kann.

Versteht man Barrieren demzufolge als sich räumlich auswirkende Behinderungen am Zugang zum öffentlichen Leben, so lässt sich schlussfolgern, dass die Erforschung und Identifizierung dieser Barrieren von entscheidender Bedeutung zur Förderung sozialer Nachhaltigkeit insbesondere im Hinblick auf marginalisierte Gruppen ist. Wie eingangs dargelegt wurde, sind diese Gruppen oft stärker von solcherlei Barriereerfahrungen betroffen. Wendet man den Blick nun im Kontext des digitalen Wandels zurück auf den Einsatz von ICT zur Verbesserung der sozialen Nachhaltigkeit urbaner Räume, so tritt die Frage nach der Datenlage hinsichtlich der Barriereerfahrungen in den Mittelpunkt.

Data on all aspects of disability and contextual factors are important for constructing a complete picture of disability and functioning. Without information on how particular health conditions in interaction with environmental barriers and facilitators affect people in their everyday lives, it is hard to determine the scope of disability. People with the same impairment can experience very different types and degrees of restriction, depending on the context. - Weltgesundheitsorganisation und Weltbank 2011, S. 22

Der vorherrschende Mangel an Daten zeigt sich besonders im urbanen Kontext bei Bemühungen um den Einsatz nachhaltigkeitsfördernder ICT, wobei sich für solche Vorhaben auch fehlende oder unvollständige Datenplattformen als erschwerende Ausgangsbedingung erweisen. Existieren allerdings öffentliche Datenplattformen, so sind diese oft auf quantitative Daten (wie Bevölkerungsstruktur, Ressourcenverbrauch) und messbare Faktoren urbaner Infrastrukturen (z. B. Energieflüsse, Mobilitätsdaten, Kriminalitätsraten etc.) beschränkt. Auch darauf aufbauende Projekte sind häufig einseitig auf die Verbesserung technischer Infrastruktursysteme ausgerichtet (Bauriedl und Strüver 2018, S. 26). Im smarten Urbanismus zeigt sich das Städtische auf das Ökonomische reduziert und soziopolitische Aspekte des Urbanen wie beispielsweise Diversität, die die eigentliche Qualität der Urbanität charakterisieren, scheinen in Vergessenheit zu geraten (Bauriedl und Strüver 2018, ebd.).

Widmet man sich der Frage, zu welchem Zweck und auf welche Weise jedoch derartige Daten zu erheben und verarbeiten wären, so lässt sich das Vorhaben auf vielfache Weise verkomplizieren. Dann nämlich wird es nötig, auf die Konstruiertheit, Kontingenz und mögliche Ungleichheiten verfestigende Produktivität von Kategorisierungen und hergestellten Daten zu verweisen. Unabdingbar scheint die Kontextualisierung eines jeden Projektes und die Notwendigkeit kritischer Verortung auf Spektren ambivalenter Repräsentation, potenziell diversitätskapitalistischer Ausbeutung und Datenmaximalismus sowie ein Appell daran, vor die Überlegungen über das Wie zunächst die Frage nach dem Ob der Datenerhebung in den Vordergrund zu stellen (Lopez 24.10.23).

Eine sorgfältige Betrachtung der Grundlage dessen, was wir im urbanen Kontext als ‚smartness’ verstehen, erweist sich dabei als unvermeidlich, um Zusammenhänge vor dem Hintergrund zu reflektieren, dass jene technische Infrastrukturen, die der Smart City zugrundeliegen, maßgeblich die sozialen und politischen Strukturen des städtischen Lebens 21. Jahrhundert beeinflussen werden (Green und Franklin-Hodge 2019, S. 143). Digitale und datengetriebene Technologien, begleitet von einem weit verbreiteten Trend der ‚Tech Goggles‘, treiben das verlockende Narrativ der ‚smarteren‘ – vernetzten, optimierten, effizienteren – kurzum: der ‚besseren‘ Stadt voran. Hier keinem Trugschluss zu unterliegen und jedweden technologischen Ansatz im Geiste eines Tech-Solutionismus zu begrüßen, erfordert jedoch umfassende und interdisziplinäre Betrachtungen (The IEEE Global Initiative on Ethics of Autonomous and Intelligent Systems 2019, S. 125) der hier nur angedeuteten Forschungshorizonte von Nachhaltigkeit, menschlicher Stadterfahrung und den Implikationen derzeitiger sowie künftiger Technologien.